Hier bin ich Russe, dort bin ich Deutscher. Aber wer bin ich wirklich?

Vor 21 Jahren, am 20.7.2000, kamen meine Familie und ich nach Deutschland. Zu diesem Zeitpunkt war ich noch nicht einmal zwei Jahre alt und kann mich folglich nicht an das Leben in Russland erinnern. Somit könnte man davon ausgehen, dass ich Deutscher bin.

Dennoch war ich überall, wo ich hingekommen bin, „der Russe“. Sei es im Kindergarten, in der Grundschule, in der Realschule, bei einem Nebenjob oder in der Ausbildung. Die Frage lautet jetzt: Wer bin ich nun?

Meine Wurzeln

Wenn ich auf meine Wurzeln schaue, bin ich deutsch, russisch und ukrainisch. Meine Mutter ist Russlanddeutsche. Russlanddeutsche sind zum größten Teil Deutsche, die im 18. Jahrhundert von Katharina II, auch bekannt als „Katharina die Große“, nach Russland eingeladen wurden, um dort zu siedeln. Mein Vater hingegen hat russische und ukrainische Wurzeln. Und doch kann man anhand meiner Wurzeln immer noch nicht wirklich sagen, wer ich denn nun bin. Bin ich jetzt Deutscher, Russe oder sogar Ukrainer?

Betrachten wir einfach meine Gene, so wäre ich eigentlich Deutscher. Dennoch fühle ich mich nicht deutsch. Zwar sind meine Mutter und ihre Vorfahren alle deutscher Abstammung, allerdings lebten sie schon einige Generationen in Russland und wurden auch dort geboren. In der Zeit hat sich so einiges vermischt: der Glaube, die Sprache, die Sitten und vieles mehr.

Die Sprache enthält mehr als das Wort „Blyat“

Es ist kann schon sehr amüsant sein, mit meiner Tante an einem Tisch zu sitzen, während sie sich mit meiner Oma unterhält. Eine Mischung aus Altdeutsch, Bayerisch und Russisch hört sich schon ziemlich witzig an. Zusätzlich sickert bei meiner Tante auch noch ab und zu der Ruhrpott-Slang durch. So viel zur Sprache.

alteBibelAmen

Der Glaube hat sich dementsprechend auch geändert. Wir gehen davon aus, dass unsere Vorfahren Protestanten waren. Wir konnten neulich bei einer Tante eine Bibel wiederfinden, die sie vor sehr vielen Jahren von ihrer Großmutter bekommen hat.

meine deutschen Vorfahren in RusslandIhre Großmutter war nämlich die Stiefmutter von meinem Opa. Leider weiß ich nicht genau, wer von den beiden Damen sie ist. 

Aber zurück zum Glauben: Man könnte annehmen, wir wären auch heute noch Protestanten. Auf dem Papier stimmt das schon, doch leben wir eher nach dem orthodoxen Glauben. Wir feiern russische Ostern, fasten und gehen hauptsächlich nur in russische Kirchen. Komischerweise feiern wir aber deutsche Weihnachten. Ja, es gibt eigentlich kein „deutsches“ Weihnachten oder „russische“ Ostern, im Grunde genommen werden nur in den jeweiligen Kirchen unterschiedliche Kalender genutzt. Und auch hier hat sich wieder alles gemischt: Wir haben den orthodoxen Glauben angenommen, leben ihn aber eher locker – wie ein Protestant.

Wir trinken alle eh nur Wodka, oder?

Zu guter Letzt: ein Beispiel für typische, russische Sitten. Jeder Russlanddeutsche kennt Brot und Salz und weiß, womit es zusammenhängt. Brot und Salz wird von der Mutter des Bräutigams gereicht. Das Paar reißt sich jeweils ein Stück Brot ab und salzt es sich gegenseitig. Gesagt wird, wer das größte Stück abreißt, hat das Sagen in der Ehe. Das Salz steht dafür, sich dass letzte Mal in der Ehe was zu „versalzen“.

Diese Art Sitten finden sich im Alltag immer wieder. Sei es zusammen in die Banja zu gehen oder die Eier an Ostern aneinanderzuschlagen. Zusätzlich gibt es viele Kleinigkeiten, die nicht wirklich Sitten sind, an die sich aber die meisten von uns halten. Im Haus darf man nicht pfeifen, sonst „verpfeift“ man sein ganzes Geld. Leere Flaschen gehören nicht auf den Tisch, denn sie gelten als ein schlechtes Vorzeichen. Auch der Schlüssel auf dem Esstisch ist ein schlechtes Omen. Obwohl ich selbst nicht abergläubisch bin, nehme ich diese Kleinigkeiten mit in mein Leben auf. Es gehört irgendwie zu mir. 

Um wieder zu der Frage am Anfang zurückzukommen: Wer bin ich nun? Deutscher oder Russe?

So, wie ich mein Leben führe und wie meine Seele fühlt, würde ich klar sagen, dass ich Russe bin. Auch wenn mich die Russen in Russland nicht als „einen von ihnen akzeptieren“, fühle ich mich zu dem Land, in dem ich geboren bin, sehr verbunden und bin stolz auf meine Herkunft.

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