Prokrastinieren – Ein Lebensgefühl

3.3.2021 09:12;

 

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Heute war ein schöner Morgen. Ich stand um 7:30 auf, duschte, und machte einen Spaziergang über einen frostigen Deich. Auch einen Besuch beim örtlichen Bäcker ließ ich mir nicht entgehen. Ich kam nach Hause, frühstückte gemütlich, und hörte die Nachrichten bei NDR Info. Dann holte ich Öl aus der Garage, um die Badezimmertür, deren Quietschen mich schon seit Wochen störte, zu schmieren. Manchmal kann das das Leben so schön sein.

Ich setzte mich an meinen Computer, scrollte weiter durch verschiedene Sozialnetzwerke, bis ich mein Internetbedürfnis für ausreichend befriedigt erachtete. Endlich klappte ich meinen Arbeitslaptop auf, über den ich auch meine schulischen Geschäfte erledigte. Heute stand für den Deutschunterricht ein Blogeintrag an. Insgesamt hatten wir 2 Doppelstunden, etwa 90 Minuten, Zeit, um etwas über unser Leben zu schreiben. Zuerst wollte ich etwas über das Thema ‚Würde‘ schreiben. Was ist Würde, und woher kommt sie, und gibt es sie überhaupt? Dann dachte ich mir, was hat mein Leben denn mit Würde zu tun? So ein Thema gehört doch wohl eher in ein Fachbuch. Was für ein Feedback sollte ich denn für so einen Artikel erwarten? Also dachte ich weiter. Ich sollte wohl etwas über meine Interessen schreiben, über die Dinge, mit denen ich meine Freizeit fülle, an denen ich Gefallen habe, und die ein Lächeln auf meine Lippen zaubern.

Nun, was ich in meiner Freizeit mache, geht eigentlich niemanden etwas an, ich wüsste nicht einmal genau, wie ich es erklären sollte, was ich so jeden Tag mache. Nur so viel sei verraten. Neben mir liegen zwei Stapel mit Papieren. Der eine aus dem Jahr 2020, der andere aus dem Jahr 2021. Der Stapel aus 2020 hat 96 doppelseitig von Hand beschriebene Seiten, dem Stapel aus 2021 wurden gestern die Seiten 96 und 97 hinzugetan. (Nachtrag vom 24.3.2021: Es sind jetzt 162 doppelseitig handbeschriebene Seiten) Bis Ende des Jahres 2021 erwarte ich ein Wachstum auf mindestens 400 Seiten. Was ich darauf schreibe, und warum ich es tue, das bleibt ein Geheimnis. Jedenfalls nutze ich die Quarantäne gut aus. Mein Thema ist die Prokrastination.

9:31;

Schon bei Spongebob formuliert der Kassierer Thaddäus gegenüber dem Geschäftsführer Mr. Krabs den Grundsatz „Was du heute kannst besorgen, dass verschiebe stets auf morgen.“ als Lebenseinstellung. Menschen mit einem Gespür für Effizienz erscheint dieser Satz sofort einleuchtend. Nichts motiviert besser als Zeitdruck. Nichts bündelt die Konzentration besser als das Ticken des Sekundenzeigers. Nichts verhindert die Verschwendung von Zeit und Mühe so gut wie der Mangel an beiden.  Die Produktivität eines Menschen verläuft wie eine Kurve, die exponentiell wächst, umso näher die Deadline rückt.

9:38;

Heute hört man aus der Arbeitswelt vor allem eine Beschwerde. Druck! Zu viel Zeit und Leistungsdruck. Dabei ist es doch gerade der Druck, der Mangel, die Entbehrung von Zeit und Ressourcen, welcher Menschen zu physischen und geistigen Höchstleistungen anspornt. Welch unermessliche Verschwendung von Arbeitskraft, dass nicht mehr auf das Prokrastinationsprinzip zurückgegriffen wird.

9:40 Der Unterricht beginnt, die Abgabe ist nahe

Gut dass ich nicht früher zu schreiben begonnen habe. Immer wenn ich denke, dass ich mit der Arbeit früh anfangen sollte, stelle ich mir folgendes vor: Was wäre, wenn ich morgen von einem Auto überfahren werde. Oder wenn ich einen prämaturen Herzinfarkt erleide. Oder wenn bei mir ein Krebs im fortgeschrittenem Stadium festgestellt würde. Wie schade wäre es denn, wenn ich meine letzten Tage und Stunden in dieser Welt mit Arbeit zugebracht hätte.

9:46

Wer nicht prokrastiniert, der verschwendet seine Zeit und Energie. Auf meinem Grabstein soll einmal stehen:

„Hier ruht heute Moritz Oltmanns. Morgen stehe ich auf.“

Ein Hoch auf die Prokrastination.

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