Bist du wirklich ein Individuum oder nur eine weitere Massenseele?

Wer bist du?

…aber zu aller erst, wer bin ich? Ich, unter fast 8 Milliarden Menschen? Wer bin ich, unter all diesen Facetten, all dieser Masse namens Menschheit? Wer bin ich, zwischen all diesen Systemen, all diesen Kulturen, all diesen Seelen? Denn es erscheint doch mittlerweile eine nicht allzu leichte Aufgabe zu sein, als ein Mensch in dieser Welt zu existieren. Ja, existieren… Wer lebt immerhin noch wirklich? Ich zumindest fühle oft, wie sehr mich der heutige Alltag erdrückt:

Einer dieser Wochentage.

© Milles Studio 1708465971

Der Wecker klingelt zum fünften Mal. Ich hebe träge meinen Arm und zwinge mich allmählich meinen Oberkörper zu einer Zeit im Bett aufzusetzen, in der eigentlich meine nächste Tiefschlafphase beginnen sollte. Mit schleppendem Gang schlurre ich mich vor den Badezimmerspiegel und gucke meinem müden, angeschwollenen Gesicht mit den zerzausten Haaren entgegen. In meinem Nacken drängt die Zeit der Pünktlichkeit, denn das vierte Mal „Schlummern“ drücken war einmal zu viel, um noch frühstücken zu können oder vernünftig aus den Träumen zu erwachen, die meine Ziele beibehalten. Hastig und unkoordiniert greife ich so gerade eben nach meiner Zahnbürste und fange mit leerem Blick an, die Plastikborsten auf meinen Zähnen hin und her zu schrubben. Vor, zurück, vor, zurück, vor, zwei Stücke Glück-… vor, zurück, ein Spaziergang im Moor-… Okay, konzentriere dich. Zähne putzen, Haare kämmen, umziehen, den Müsli-Riegel nicht vergessen und los. Ich torkle weiter durch meine Wohnung und stürme halb fallend die wenigen Treppenstufen hinunter, schließe mein Auto auf und beschreite, mehr schlafend als wach, den Weg zur Arbeit. Also dort angekommen murmeln ein, zwei, drei „Guten Morgen“ über meine Lippen. Ich schalte den Monitor an und starre leer gegen die LED-Fläche, bis ich meine Finger auf die Tasten lege und mich einlogge. 8 Uhr. 9 Uhr. 10 Uhr. 15 Minuten Pause. 11 Uhr. 12 Uhr. 13 Uhr.

© „Bilder lesen – Photography“. Friedrichs Verlag.2

14 Uhr. 30 Minuten Pause. 15 Uhr. 16 Uhr. 17 Uhr. Da bin ich wieder. Hallo Welt. Ich sehe die Nachrichten der letzten 9 Stunden auf meinem Handydisplay aufploppen, als ich das Betriebsgebäude verlasse. Meine Augenlider sind schwer, meine Beine balancieren die letzten Arbeitsstunden voreinander her, ich spüre ein leicht stumpfes Gefühl in meinem Hinterkopf.

© Lia Koltyrina / Shutterstock

Keine Zeit für Selbstmitleid, ich muss noch tanken, einkaufen, Zuhause die Wäsche machen und ach ja… da war ja noch die Klausur, am Ende dieser Woche. Willkommen im Leben einer Auszubildenden. Nachdem ich mich an die Tankstelle und durch den Supermarkt gezwungen habe, falle ich Zuhause aufs Sofa, begleitet von schwerem Atem. Insgeheim wünsche ich mir, ich hätte noch mehr Zeit als circa 4 Stunden des Resttages, bevor ich mich wieder vorausschauend für den nächsten Tag bettfertig machen müsste, um nicht wieder so unerholt den Tag zu überstehen.

Ich zwinge mich wieder hoch, erledige meine Pflichten, mit dem Gedanken, noch ein wenig Zeit für mich zu haben. Aber kaum 5 Minuten mit mir alleine und mich plagen all die Gedanken, die mein Arbeitstag bisher erfolgreich verdrängen konnte. Und da bin ich wieder. Mit all meinen Selbstzweifeln, Unsicherheiten, ungestillten Bedürfnissen, Ängsten und dieser verdammten Einsamkeit, die doch bei meinem ach so zukunftsorientiertem Alltag gar keine Gründe hätten. Ich starre an die Decke und beende meinen Kopfsturm wieder mit der Frage, ob das, was ich tue, wirklich leben ist.

© „im Käfig…“. User: gruford , fotocommunity.de

Der Mensch in Käfighaltung

Wir alle sind Teil dieses Systems. Der eine trickst es durch Selbstverwirklichung mehr aus, als der andere, aber am Ende steht jeder immer wieder vor dem Abgrund dieser Leistungsgesellschaft. Wir sind die Zucht unserer Erwartungshorizonte. Wir sind Sozialnoten in fremden Umgebungen, Bewertungen von fremden Menschen, Leistungspunkte von fremden Inhalten und Zeugnisse von fremden Masken. Unser Werdegang spiegelt in häufigster Form ein Muster all unserer Existenzen wieder, aus dem Grund, dass unsere Gesellschaft voraussetzt, sich einzugliedern, zu „gesellen“. Am Ende spiegeln wir mit diesen vermeintlichen Erfolgen nur Opfer eines Konzepts wieder, dass sich in rasanter Form und Zeit strudelhaft in Richtung Wahnsinn bewegt. Unsere Generation ist der größte Spiegel davon, dass all der betitelte „Fortschritt“ aller plakativ medialer Aussagen doch nur ein Scheinbild von Manipulation, Provokation und Propaganda darstellt. Warum? Hast du dich nicht schon mindestens einmal erdrückt gefühlt, in all dieser Übermenschlichkeit? Korrigiere mich, wenn ich falsch liege, aber dieser „Alltag“, wie wir ihn nennen, ist doch nur ein getarnter Zeiträuber, der unsere wirkliche Lebenszeit begrenzt, damit all unsere Geister bloß nicht zu frei und glücklich durch diese Welt schweben können. Schaut euch um. All die steigenden Zahlen der psychisch Belasteten und gar erkrankten Menschen2, die doch nur ein Abbild der Fehlerhaftigkeit unserer Invasion sind. Und was passiert mit diesen geprägten Seelen? Richtig, sie werden ihrer selbst entraubt, bis sie selbst ihre Existenz hinterfragen. Mobbing, Terrorismus, Extremismus, alles schonmal gehört, nicht wahr? Phänomene der heutigen Zeit, denen im Trend-Verfahren Beachtung geschenkt wird, bis sie nicht mehr erschreckend oder interessant genug werden. Swipe nach links, nächste Story bitte. Wir alle steuern mit unserem Medientrotz auf einen Kommunikationskollaps zu und verlieren damit eine unserer Grundeigenschaften der Sozialität. Posts, Likes und Story-Reaktionen sind unsere neumodischen Endorphine, die unseren Suchtkomplex mit narzisstischer Selbstdarstellung nur weiter in Richtung Egoismus als Blutsauger unserer Gegenwart lenken. All diese Trends über Trends definieren am Ende doch nur die Unendlichkeit von Individualität, was schon längst ein generalisierter Begriff darstellt, denn was gibt es, was es nicht schon gibt?
Wir alle boykottieren Massenprodukte, und doch sind wir längst selbst das größte Massenprodukt der Natur. Aber immerhin ist doch genau dieser Kapitalismus die modernste Selbstdarstellung unserer Menschheit.

Vive de la Revolution!

© „Kleines Kind ganz groß.“. Philipp Mohnberg

Nun würde ich gerne wissen, wie du dich fühlst. Ein bisschen revolutionär oder eher gefangener als zuvor? Vielleicht ist diese Art von Pessimismus ja der neue Realismus, aber neben all den bereits erwähnten Kopfstürmen sollten wir nicht aus den Augen verlieren, dass Selbstliebe, -verwirklichung oder -beständigkeit immerhin in dieser modernen Gesellschaft mehr Chancen haben als je zuvor. Vergesst nicht: „Es irrt der Mensch, solang er strebt.“ Nun stellt sich mir noch eine Frage. Oder vielleicht solltest du sie dir selbst stellen … : Wer bist du?

 

Quellen:

https://countrymeters.info/de/World, (Abgerufen am: 08.06.2022).

Bild: https://photographie.de/bilder-geschichten/westlicht-praesentiert-world-press-photo-award/, (Abgerufen am: 08.06.2022).

Bild: Milles Studio/shutterstock.com 170846597, (Abgerufen am: 08.06.2022).

Bild: https://www.friedrich-verlag.de/englisch/unterricht-englisch/bilder-lesen-photography-47, (Abgerufen am: 08.06.2022).

https://www.brigitte.de/liebe/persoenlichkeit/big-five–5-persoenlichkeits-merkmale–die-jeden-menschen-praegen-11583528.html, (Abgerufen am: 08.06.2022).

BIld: https://www.fotocommunity.de/photo/im-kaefig-gruford/29484022, (Abgerufen am: 08.06.2022).

Vgl. https://www.dgppn.de/schwerpunkte/zahlenundfakten.html, (Abgerufen am: 08.06.2022).

Leitspruch der Proteste der „Gelben Westen“ gegen Emmanuel Macron und die Schichtgesellschaft der Reichen und Armen in Frankreich: Vgl. https://www.volksstimme.de/deutschland-und-welt/vive-la-revolution-1968778, (Abgerufen am: 08.06.2022).

Goethe, Johann Wolfgang von: Faust I – Prolog im Himmel, 1790.

Bild: „Kleines Kind ganz groß.“. Philipp Mohnberg. 22.06.2021 https://www.derstandard.at/story/2000127523362/die-naechste-generation , (Abgerufen am: 08.06.2022).