1. Preis im Blog-Wettbewerb: „Corona-Tagebuch“ – oder: wie ich in Zeiten von Social-Distancing anfing mit mir selbst zu reden
ein Beitrag zum Blog-Wettbewerb der BBS Haarentor von Karla Kolumna
31. Dezember 2019
Liebes Tagebuch,
endlich Silvester! War schon ein krasses Jahr, wenn man bedenkt, wie schnell alles gegangen ist. Erst der ganze Abistress und dann auch noch die neue Ausbildung. Bis man sich daran erstmal gewöhnt hat, sich so lange zu konzentrieren, sind gefühlt Jahre vergangen. Aber jetzt ist ja eigentlich erstmal ganz cool. Die typischen Neujahrsvorsätze lasse ich diesmal unter den Tisch fallen, bringt ja sowieso nichts … Und heute Abend dann zu einer Party bei Freunden. 2020 kann kommen!!!
21. Januar 2020
Liebes Tagebuch,
das Jahr fing richtig gut an (Achtung Ironie). Momentan bin ich im Geschäftskundenbereich. Das heißt Leute anrufen, die nicht angerufen werden wollen und ihnen teure Anzeigen andrehen. Gar nicht meins. Aber es nützt ja nichts, Arbeit ist Arbeit und so lange bin ich nun auch wieder nicht hier. Heute kam in den Nachrichten ein Bericht über dieses Dorf irgendwo in China, wo anscheinend irgendeine Seuche ausgebrochen ist. Also am anderen Ende der Welt und es läuft hier in den Nachrichten. Als ob es nicht genügend andere Themen gibt, die uns betreffen, wie den Klimawandel oder den immer stärker auftretenden Rassismus in Deutschland. Klar, es tut mir schon leid für die Menschen vor Ort. Aber wegen so etwas hier, am anderen Ende der Welt, einen ganze Beitrag Sendezeit zu verschwenden? Naja, ist ja nicht mein Geld.
16. Februar
Liebes Tagebuch,
heute kam in den Nachrichten, dass es den ersten Corona-Fall in Europa gab. Schon erschreckend irgendwie. Aber naja dann werden halt alle Personen isoliert, die Kontakt hatten. Und selbst wenn es sich noch weiter verbreitet – ein bisschen Husten und Niesen wird ja wohl nicht so schlimm sein. Ich freue mich auf jeden Fall schon auf die Klassenfahrt nächsten Monat, es geht nach Berlin! Endlich mal wieder Urlaub, kann ich richtig gut gebrauchen!
03. März
Liebes Tagebuch,
die Zeit ist wie im Flug vergangen! Nächste Woche geht es endlich auf K L A S S E N F A H R T !!! Mama und Papa haben es auch endlich geschafft noch die letzten Sachen für unseren Portugal-Urlaub in den Osterferien zu klären. Eine ganze Woche Sonne, Strand und Meer. Morgen ist erstmal shoppen angesagt, damit ich auch ein paar coole Sachen mitnehmen kann. Ich freue mich riesig!
05. März
Liebes Tagebuch,
ich kann einfach nicht fassen, wie sich die Lage entwickelt. Klar, Corona ist schon scheiße, aber deswegen zu überlegen die Klassenfahrt abzusagen? Was soll das denn? Ich werde in Berlin schon nicht anfangen irgendwelche Griffe in der Straßenbahn abzulecken oder so etwas. Ich finde das schon ganz schön albern. Und ich sollte es wissen. Mein Vater ist Teil einer Risikogruppe. Er hatte vor zwei Jahren einen Herzinfarkt und spaziert jetzt mit 5 Stands durch die Weltgeschichte. Gerade seine Gesundheit will ich nicht aufs Spiel setzen. Aber Corona ist doch auch nur ein bisschen Schnupfen und Husten. Dann wasche ich mir halt ein paar Mal öfter die Hände.
12. März
Liebes Tagebuch,
die Klassenfahrt wurde abgesagt. Ich bin echt mega enttäuscht. Unsere Lehrer geben sich zwar Mühe und nehmen Rücksicht, aber es ist trotzdem nicht dasselbe. Ich meine, es wäre schon ätzend gewesen, nach Berlin zu fahren und nicht wieder zurückzukommen, aber deswegen komplett abzusagen? Ich meine, was ist mit unserem Geld?
13. März
Liebes Tagebuch,
heute wurde bekannt gegeben, das ab nächster Woche die Schulen geschlossen werden. Mein Bruder hat zwar schon länger darauf gehofft und macht jetzt Freudensprünge, dass er die gefürchtete Latein-Klausur nicht schreiben muss, aber ich fühle mich durch die Situation eher bedrückt. Wenn sie schon die Schulen schließen … hab ich die Situation vielleicht unterschätzt?
19. März
Liebes Tagebuch,
ich habe jetzt eine kleine Flasche Desinfektionsmittel auf meinem Schreibtisch stehen. Eigenanschaffung. Aber was bringt die einem, wenn man auf 2 Metern mit 4 Leuten sitzt? Ich befinde mich momentan in einem Großraumbüro. Dem Kundenservicecenter. Hier wird telefoniert. Hier landet der Kunde, wenn er die Telefonnummer wählt, die im Internet und auf der Zeitung steht. Wie soll man hier Abstand schaffen, wenn zu wenig Räumlichkeiten zur Verfügung stehen, auf welche man zurückgreifen könnte?
20. März
Liebes Tagebuch,
5 Tage die Woche zur Arbeit gehen – krasse Umstellung. Es gibt hier zwei Sorten von Menschen: Auf der einen Seite stehen die, die sich lachend gegenseitig ins Gesicht husten und Witze über dieses „Corona“ machen und sich dann morgen Abend zum Grillabend bei Steffi treffen wollen. Auf der anderen Seite gibt es aber auch die, die mit Desinfektionsmittel bewaffnet am Schreibtisch sitzen und jeden böse anschauen, der sich ihnen auf 5 Meter Sicherheitsabstand nähert. Und ich? Ich befinde mich irgendwo dazwischen. Unentschlossen.
22. März
Liebes Tagebuch,
meinen Portugal-Urlaub kann ich mir abschminken. Der Koffer ist wieder ausgepackt und mein neuer Bikini ist ganz hinten in meinem Kleiderschrank deponiert. Den werde ich wohl erstmal nicht brauchen. Ich habe gestern mit einer Freundin aus Düsseldorf, die im medizinischen Bereich arbeitet, geredet. Sie hat eine sehr starke Meinung, was die Situation angeht, was ich auf der einen Seite respektiere, was mich auf der anderen Seite aber auch ärgert. Klar, ich gebe es offen zu: Ich habe mich wie ein Idiot aufgeführt und die Lage unterschätzt. Das ist aber auch leicht, wenn man sich in seiner Blase befindet und sich um einen herum nichts verändert. Der gewohnte Alltag einfach weiterläuft. Jetzt darf ich nicht mehr zur Schule, aufgrund der neuen Regeln von der Regierung wird der Alltag dicht gemacht. Auf der Arbeit wird inzwischen sogar schon von Kurzarbeit gesprochen. Das ist nach einer schnellen Google-Recherche, als keiner hinsah, für mich Gewissheit. Azubis sind von Kurzarbeit nicht betroffen. Für Leute mit eigener Wohnung bestimmt eine Erleichterung – für mich heißt das nur, dass ich mein bereits bestelltes Amazon-Paket doch nicht zurückschicken muss.
10. April
Liebes Tagebuch,
nach ein paar Wochen Arbeit befinden sich nun viele Menschen im Home-Office. Azubis ausgenommen. Klar. Es ist kaum Arbeit hier und nicht wirklich jemand, der uns was erklären kann. Schon logisch, dass wir dann hier sitzen und nichts tun. Immer noch auf 2 Metern mit 4 Leuten sitzen.
Kurzarbeit wurde nun nicht beantragt. Stattdessen haben wir einen sogenannten „Solidarpakt“. Mitarbeiter kürzen auf freiwilliger Basis ihre Stunden. Klingt schon echt fancy, so nach außen. Ich brauchte gar nicht drüber nachdenken. Unser Geschäftsführer hat in einem Video an die Belegschaft schon klargestellt, dass er „von seinen Azubis da gar nichts erwarte“. Glück gehabt, mal wieder. Die EDV hat es inzwischen übrigens geschafft, zwei „Außenplätze“ für Mitarbeiter aus meiner Abteilung einzurichten. Das heißt zwei Mitarbeiterinnen wurden einen Raum weitergesetzt. Mir stellt sich da die Frage, was passiert, wenn einer von uns Corona hätte. Müsste dann der Raum in Quarantäne, der Flur, das Gebäude? Scheinbar weiß das keiner so wirklich.
02. Mai
Liebes Tagebuch,
der April war ziemlich zäh. Man konnte nichts machen. Die Sportwebsite auf der ich mich angemeldet habe, wurde mir auch irgendwann zu langweilig. Ich habe mir auf Amazon eine Ukulele bestellt – ich werde jetzt musikalisch (zumindest solange bis ich es entnervt aufgebe). Auf der Arbeit hat sich für mich nichts verändert. Viele sind ins Home-Office gegangen. Ich bleibe aufgrund dessen länger in meiner jetzigen Abteilung. Überall sitzen die Mitarbeiter nur noch zu zweit im Büro – außer bei uns. Es heißt, dies sei zu schwierig, aufgrund der Telefonanlage.
05. Mai
Liebes Tagebuch,
auf einmal muss alles ganz schnell gehen. Tische werden auseinander gerückt. Drei Plätze werden in einem weiteren Raum auf unserem Flur eingerichtet, Plexiglasscheiben sind bestellt. Ich musste nicht lange grübeln, warum es nach 5 Wochen Pandemie (?) auf einmal so eskaliert. Der Betriebsarzt hat sich für nächste Woche angekündigt, um sich das alles „mal anzusehen“. Es steht jetzt übrigens auch Desinfektionsmittel auf der Toilette.
Aktuell
Liebes Tagebuch,
es stellte sich letztendlich heraus, dass der Betriebsarzt nicht kommen kann, dass er sich in 2-wöchiger, freiwilliger Quarantäne befindet. Er hatte wohl Kontakt zu einem „Corona-Infizierten“. Ich weiß inzwischen nicht mehr, ob ich lachen oder weinen soll. Wir dürfen bald wieder zur Schule gehen. Mit Mundschutz und nur alle zwei Wochen, aber das ist doch schon mal was. Außerdem hat mein Studio wieder aufgemacht – ich kann jetzt wieder zum Kickboxen gehen. Unser Geschäftsführer hat angekündigt, dass so langsam alle wieder aus dem Home-Office zurückkommen sollen. Es wird so viel gelockert, denken die Menschen, dass Corona jetzt plötzlich verschwunden ist? Mich haben die letzten Wochen zu der Erkenntnis geführt, dass wohl kaum jemand einen Überblick oder einen Plan hat. Und das finde ich ziemlich beängstigend. Eine schnelle Google-Suche spuckt mir die momentane Todeszahl von 359.791 Menschen weltweit aus. Menschen, die nicht hätten sterben müssen. Ich möchte die Toten nicht der schlechten Regierung eines Präsidenten zuschreiben, der seinen Bürgern rät, sich Desinfektionsmittel zu spritzen oder einem Restaurantbesitzer, der eine die Öffnung seines Restaurants feiert und aus der 27 Infizierte und über 200 Menschen in Quarantäne gehen. Es sind viel mehr die kleinen Dinge: Ich habe bisher noch keinen Corona-Test gemacht / machen müssen. War ich vielleicht Teil einer Infektionskette, die einem Menschen am Ende das Leben gekostet hat?
Wie jeder andere kann ich diese Frage nicht klar mit „Nein“ beantworten. Es wäre also vielleicht eine Maßnahme, sich an die eigene Nase zu fassen (bitte nicht wörtlich nehmen), sich brav an die Abstands- und Hygienemaßnahmen zu halten und diese Bill-Gates-Verschwörung (Achtung: Ironie) solange ernst zu nehmen, bis sich so etwas wie ein Impfstoff gefunden wird.